Samstag, 23. Oktober 2010

Artikel im GEA: Notfalls Sitzblockade

Heute ist im GEA ein Artikel über die Protestaktion der Gruppe Gmindersdorf am Bauzaun
und den Wissenschaftler- Appell an den Stadtrat erschienen.

Von Ulrike Glage
REUTLINGEN. Am Dienstag entscheidet der Gemeinderat über den Bebauungsplan »Moserstraße« - und damit über das Schicksal der Gebäude des Architekten Helmut Erdle, die die Bosch-Wohnungsgesellschaft abreißen und durch Neubauten ersetzen will. Die Gmindersdörfler wehren sich vehement gegen das Vorhaben. Und ihr Protest wird schärfer: Etwa 50 Anlieger machten jetzt bei einer plakativen Aktion am Bauzaun ihrem Unmut Luft. Unterdessen appellieren Fachwissenschaftler aus ganz Deutschland und aus England an den Gemeinderat, die Erdle-Bauten zu erhalten.

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»Bosch + Politik zerstören Kulturdenkmal« oder »Das Gmindersdorf muss erhalten bleiben« steht auf den großen Transparenten, die bei der abendlichen Aktion am Bauzaun befestigt werden. Dazwischen hängen kleinere Plakate, die über die Geschiche der Erdle-Bauten informieren. Und die zehn Namen der Architekturexperten, die an den Gemeinderat appellieren, die Gebäude nicht abzureißen.

»Wir wissen, dass die Geschichte uns Recht gibt« §§ Dafür setzen sich auch die Gmindersdörfler ein. Vehement. »Das ist schon erstaunlich«, sagt Stefan Fuchs und deutet aufs gegenüberliegende Bosch-Gelände, »drüben entlässt die Firma 190 Arbeitnehmer und will keine Azubis mehr übernehmen - sieht Bosch überhaupt noch eine Zukunft hier?« Der Bau von Werkswohnungen erscheine da ja wohl unlogisch. »Das sieht doch nach einem reinen Immobiliengeschäft aus«, schüttelt Ulrich Wilke den Kopf, »da geht's doch nur um Geschäftsinteressen.«

Und Frank Scherer wundert sich, wie der Gemeinderat »so was« genehmigen wolle, wo doch das Gmindersdorf als Vorzeigeobjekt gelte, das bei öffentlichen Führungen sogar von Reisegruppen besichtigt werde. »Die hochmodernen Quaderformen, die da geplant sind, passen vom Stil überhaupt nicht.« Der zwölfjährige Michael guckt traurig auf die hohe Tanne hinterm Bauzaun. »Soll die auch weg?«, fragt er, und die Umstehenden nicken wortlos.

Doch eigentlich wollen sie es so weit nicht kommen lassen. Sie sind wild entschlossen, alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel zu nutzen. Am Dienstag heißt's erstmal Präsenz zeigen im Gemeinderat. Und wenn der den Bebauungsplan durchwinkt und damit den Weg freigibt zum Abriss der Erdle-Bauten? »Dann machen wir eine Sitzblockade«, meint einer, »wir ketten uns an«, ein anderer. »Wir machen auf jeden Fall weiter«, betont Karin Schliehe. Immerhin handle es sich bei den Bauten um ein Kulturgut von überregionaler Bedeutung. »Das darf nicht abgerissen werden. Wir wissen, dass die Geschichte uns Recht gibt.« Ihrer Ansicht nach sollte die Stadt der Firma Bosch als Alternative ein anderes Areal anbieten. »Das ist sie dem Gmindersdorf schuldig.«

Prominente Unterstützung bekommen die Gmindersdörfler von namhaften Fachwissenschaftlern von Hamburg über Berlin und Dresden bis ins englische Kent. In ihrem Appell raten sie dem Reutlinger Gemeinderat, die Erdle-Gebäude aus bauhistorischer Sicht nicht abzureißen. Zur Begründung führen sie an, dass Helmut Erdle seine Siedlungsbauten fürs Gmindersdorf von 1950 bis 1953 auf dem Höhepunkt seines städtebaulichen Schaffens realisiert habe und das Ensemble exemplarisch für das Werk des Architekten sei, der sich um den Städte- und Siedlungsbau in Baden-Württemberg außerordentlich verdient gemacht und dafür auch mehrfach hohe Auszeichnungen bekommen habe.

§§ »Wir sind fest entschlossen, für den Erhalt einzustehen«
Die drei Bauten im Gmindersdorf seien überdies die letzten Siedlungsgebäude von Helmut Erdle im Regierungsbezirk Tübingen, nachdem seine ECA-Siedlung in Reutlingen bereits abgerissen worden sei. Die Unterzeichner verweisen außerdem auf die Entstehung der Arbeiterkolonie Gmindersdorf, die ab 1903 von Theodor Fischer projektiert wurde. Der ursprünglich geplante westliche Bauabschnitt sei vor dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr realisiert worden, so dass die Siedlung im Westen ohne jeden »stadt-räumlichen Abschluss« ende. Erdles Gebäude seien nicht nur eine Ergänzung der Siedlung, er habe sie damit erst fertig gestellt. »Die Erdle-Bauten stellen somit keine 'Erweiterung', sondern die Komplettierung von Gmindersdorf dar. Ein Abriss würde der Gesamtsiedlung erheblichen Schaden zufügen«, betonen die Bauhistoriker. Und sie verweisen auf den »außerordentlich hohen künstlerischen und architektonischen Anspruch« Erdles an die Bauten in der Moserstraße.

Ein namhafter Unterzeichner des Appells ist Professor Adrian von Buttlar von der Technischen Universität Berlin, der sich erst kürzlich in einem Vortrag in Reutlingen für den Erhalt des kompletten Rathausareals ausgeprochen hat. Initiiert wurde der Aufruf von der Architekturhistorikerin Dr. Elke Sohn (Universität Kaiserslautern), die schon vor dem Reutlinger Bauausschuss für den Erhalt der Gebäude plädiert hatte. Weil ihrer Ansicht nach in der Prüfung des Denkmalamts die Architektursprache und die künstlerisch-architektonische Gestaltung der Bauten zu kurz gekommen sind, hatte sie eigene Recherchen unternommen. Ihr Fazit im Namen der anderen Wissenschaftler: »Wir sind auf Grundlage der dabei gewonnenen Erkenntnisse fest entschlossen, in Politik, Öffentlichkeit und Fachgremien für den Erhalt dieser Bauten einzustehen.« (GEA)
Quelle:Reutlinger General-Anzeiger

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