In der Samstagsausgabe des Reutlinger General Anzeigers(GEA) ist der Artikel "Bausünde" erschienen, er ist unserer Ansicht nach gelungen und stellt die derzeitige, neue denkmalpflegerische Situation im Gmindersdorf erstmalig in der Presse dar. Er ist hier zu lesen.
Der Artikel
Der Widerstand regte sich prompt, als die Neubaupläne der Robert-Bosch-Wohnungsgesellschaft in der Moserstraße publik wurden: Bewohner des direkt angrenzenden denkmalgeschützten Gmindersdorfes wehrten sich gegen die massive Bauweise, die Höhe der Gebäude und die geringen Abstände.
Das Gebäudeensemble aus den Fünfzigerjahren ist vielleicht sanierungsbedürftig, aber aus bauhistorischen Gründen keineswegs reif für den Abriss, finden einige Gmindersdörfler und appelieren deshalb an die Stadt und die Firma Bosch, die Neubaupläne zu überdenken. FOTO: NIETHAMMER
Das Gebäudeensemble aus den Fünfzigerjahren ist vielleicht sanierungsbedürftig, aber aus bauhistorischen Gründen keineswegs reif für den Abriss, finden einige Gmindersdörfler und appelieren deshalb an die Stadt und die Firma Bosch, die Neubaupläne zu überdenken. FOTO: Markus Niethammer
Die Kritik richtete sich nicht grundsätzlich gegen die Neubebauung, wohl aber gegen deren Ausmaße. Doch inzwischen gibt es weitergehende Forderungen: Eine Bürgergruppe appelliert an die Verantwortlichen, den Abriss der Siedlungsbauten aus den Fünfzigerjahren zu überdenken und neu zu bewerten.
Grundlage des Aufrufs, der von namhaften Architekten und Bauhistorikern aus ganz Deutschland unterzeichnet ist, sind handfeste wissenschaftliche Erkenntnisse. Auf die sind die Grafiker Karin Schliehe und Bernhard Mark gestoßen, die vor neun Jahren ins idyllische Gmindersdorf gezogen sind. »Wir fanden die Siedlung außerordentlich schön«, sagt Karin Schliehe und zitiert den Erbauer der Arbeiterkolonie, Theodor Fischer: »Er wollte, dass die Menschen in dieser Siedlung glücklich werden.«
Alles andere als glücklich waren Karin Schliehe und Bernhard Mark, als sie von den Neubauplänen der Bosch-Wohnungsgesellschaft erfuhren. Von Berufs wegen mit Sinn für Ästhetik und Interesse an Architektur ausgestattet, lösten die Pläne bei ihnen wie bei den anderen Gmindersdörflern sofort Skepsis aus. Die beiden machten sich auf die Suche nach habhaften Argumenten - und stießen auf bemerkenswerte Fakten. Denn Helmut Erdle, der Erbauer der Siedlungshäuser, die die Bosch-Wohnbaugesellschaft jetzt abbrechen will, ist kein x-beliebiger Architekt und die von ihm erstellten Häuser keine Nullachtfünfzehn-Bebauung.
»Das integriert sich total ins Gmindersdorf« §§ Helmut Erdle, der unter anderem die Killesbergsiedlung in Stuttgart gebaut hat, war Assistent von Heinz Wetzel. Der wiederum plante als Mitarbeiter von Professor Theodor Fischer, Stararchitekt der damaligen Zeit, die 1903 gebaute Werkssiedlung Gmindersdorf mit. Erdle wird wie Wetzel zur »Stuttgarter Schule« gezählt, und die Häuser in der Moser- und Wilhelm-Kuhn-Straße baute er, so die Erkenntnisse von Schliehe und Mark, ganz in deren Sinne - im Übrigen erneut im Auftrag der Firma Gminder. Merkmale der »Stuttgarter Schule« waren viele Grünflächen, aber auch eine Anpassung an bauliche und landschaftliche Gegebenheiten.
Die drei von 1950 bis 1952 gebauten Gebäudekomplexe spiegeln zwar den Stil der Fünfzigerjahre wider, greifen aber auch Gestaltungsmerkmale des Gmindersdorfes auf: die Biberschwanzdächer, Rundbogenfenster, Dachgauben oder Holzverkleidungen. Die Bauten, so das Fazit von Karin Schliehe und Bernhard Mark, können deshalb keinesfalls losgelöst vom Kulturdenkmal Gmindersdorf gesehen werden. »Das ist eine Siedlungserweiterung, die Helmut Erdle ganz im Sinne von Fischer und Wetzel hinzugefügt hat, das integriert sich total ins Gmindersdorf.« Und zwar, wie sie betonen, ohne der kleinen Siedlung »zu nahe zu treten« - was man von der geplanten Neubebauung nicht behaupten könne.
Dass die Auftraggeber von Bosch und das Denkmalamt nicht vorher hellhörig wurden, führen die beiden Grafiker darauf zurück, dass die Bedeutung von Helmut Erdle - er starb 1991 - für die deutsche und europäische Siedlungsbaugeschichte erst in aktuellen Forschungsarbeiten untersucht wird. So berühmt wie Theodor Fischer ist er noch lange nicht, doch wird ihm schon jetzt ein hoher Stellenwert beigemessen, hat Karin Schliehe festgestellt. Sie verweist auf die Architekturhistorikerin Professor Elke Sohn von der Hochschule Saarbrücken, die im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft über »Wetzel und seine Schüler« schreibt. Sohn war es auch, die den Aufruf vorgeschlagen und formuliert hat. Aufgrund der Informationen der beiden Reutlinger kam sie zu der Überzeugung, dass vor einem Abriss des Gebäudeensembles unbedingt dessen Bedeutung überprüft werden müsse. Außerdem sei sie bereit, eine entsprechende Untersuchung vorzunehmen.
»Schon aus Respekt vor der Siedlung sollte das erst mal geprüft werden«, finden auch Karin Schliehe und Bernhard Mark. Das Gmindersdorf als eine der bedeutendsten historischen Arbeitersiedlungen gehe nicht nur Reutlingen, sondern ganz Deutschland etwas an. »Es ist für die Zukunft wichtig, das in seiner Gesamtheit wie in anderen Städten auch zu erhalten«, findet Karin Schliehe. Ein Abriss und die geplante Neubebauung aber würden das Gmindersdorf unwiederbringlich verändern. »Es ist zu befürchten, dass es als Gesamtzeugnis erheblich Schaden erleidet.«
Schliehe und Mark geht es aber auch darum, die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen. Sie erinnern an den »Denkmalkrieg« der Siebzigerjahre im Gmindersdorf, bei dem die Denkmalbehörde den Kürzeren zog: Die Bewohner wehrten sich - unterstützt vom Gemeinderat - erfolgreich gegen das Ansinnen, das komplette Gmindersdorf unter Denkmalschutz zu stellen. Sie sahen sich in ihren Rechten bedroht, ihr Motto hieß »Denkmalamt - Totengräber der Freiheit und Demokratie«. Geblieben ist die Ortsbausatzung von 1967, mit der die Siedlung vor Veränderungen geschützt werden sollte. Doch nicht alle hielten sich damals daran. Die Verschandelung einzelner Häuser zeugt bis heute davon.
§§ »Keiner kann ernsthaft dieser Bebauung folgen«
»Diese Fehler würden potenziert, wenn man dem Erdle-Ensemble aus wirtschaftlichen Interessen jetzt den Garaus macht«, findet Bernhard Mark, in dessen Augen die Neubaupläne schlicht eine »Bausünde« sind. Sie gehen davon aus, dass das Vorhaben aus Unwissenheit über die städtebauliche Bedeutung des Erdle-Gebäudeensembles auf den Weg gebracht wurde. »Wenn sich alle Beteiligten bewusst machen, was das für ein Potenzial ist, kann keiner ernsthaft dieser Bebauung folgen. Das wäre unverantwortlich.« Jetzt hoffen sie, dass ihr Aufruf - unter anderem ist er ans Denkmalamt, den Gemeinderat und die Firma Bosch gerichtet - Wirkung zeigt. (GEA)
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