Sonntag, 24. Oktober 2010

Artikel in den Reutlinger Nachrichten: Wissenschaftler für den Erhalt der Erdle-Siedlung

Zehn Wissenschaftler haben sich mit einem Appell an den Reutlinger Gemeinderat gewandt, in dem sie sich für den Erhalt der Erdle-Bauten in Gmindersdorf aussprechen. Hier nun ihre Erklärung im Wortlaut:

"Sehr geehrte Damen und Herren, wir geben Ihnen aus bauhistorischer Sicht den Rat, sich gegen einen Abriss der Erdle-Bauten auszusprechen.

Denn für den Erhalt sprechen: Helmut Erdle hat seine Siedlungsbauten für Gmindersdorf 1950 bis 1953 auf dem Höhepunkt seines städtebaulichen Schaffens realisiert. Mit 70 Projekten entstand in den 1950ern ein Drittel seines Werkes. Insofern stehen die Bauten exemplarisch für das Werk dieses Architekten, der sich um den Städte- und Siedlungsbau in Baden-Württemberg außerordentlich verdient gemacht hat. Er wurde für sein Werk nicht nur mit dem Paul-Bonatz-Preis der Stadt Stuttgart und dem Titel der Ehrenprofessur des Landes Baden-Württemberg ausgezeichnet, sondern 1982 auch mit der Verdienstmedaille des Verdienstordens der BRD.


Nach dem die ECA-Siedlung in Reutlingen bereits abgerissen wurde, stellen diese drei Bauten in Gmindersdorf die letzten Siedlungsbauten von Helmut Erdle im Regierungsbezirk Tübingen dar.

Die Arbeiterkolonie Gmindersdorf wurde ab 1903 von Theodor Fischer - unter Mitarbeit von Heinz Wetzel - projektiert. Ein ursprünglich geplanter westlicher Bauabschnitt wurde vor dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr realisiert, die Siedlung brach im Westen ohne jeden stadträumlichen Abschluss oder Eingang ab. Helmut Erdle hat diesen stadtgestalterisch und architektonisch ganz im Geiste von Fischer und Wetzel ergänzt und die Siedlung damit erst fertig gestellt. Erdle war ebenfalls von Gminder beauftragt.

Die Erdle-Bauten stellen somit keine "Erweiterung", sondern die Komplettierung von Gmindersdorf dar. Ein Abriss würde der Gesamtsiedlung erheblichen Schaden zufügen. Anhand von Gmindersdorf kann die besondere Stadtbaukunst und baukulturelle Haltung der Stuttgarter Schule über die Generationen von Fischer und Wetzel bis hin zu jener Erdles (Schüler und Mitarbeiter von Wetzel) gelesen werden: Die Kontinuitäten und Veränderungen jener Schule werden hier auf einmalige Weise sichtbar. Die Bauten stellen damit ein wichtiges bauhistorisches Zeugnis dar.

Erdle hat seine Bauten als Teil von Gmindersdorf geplant, das von seinen Vorbildern Fischer und Wetzel projektiert worden war. Dass ihm diese Siedlungsergänzung sehr am Herzen lag, wird durch die Planunterlagen belegt: Erdle war mit zirka 200 Plänen zu diesem Projekt bereit, einen enormen Planungsaufwand zu leisten. Dieser reichte von städtebaulichen Gestaltstudien bis hin zu einer außergewöhnlich umfangreichen Detaillierung in M 1:1. Der künstlerische und architektonische Anspruch Erdles an diese Bauten war außerordentlich hoch.

Für Gmindersdorf nimmt das Ensemble weiterhin die wichtige Aufgabe der Vermittlung zwischen den Reformarchitekturen Fischers und der westlichen Siedlungserweiterung in den 1950ern und 1960ern wahr, sowohl in ihrer Ausgestaltung als städtebauliches Gelenk wie auch in ihrer Architektursprache, die Tradition und Moderne neu vereint. Diese bauhistorische Einschätzung beruht auf einer Analyse der Originalplanunterlagen im Südwestdeutschen Archiv für Architektur und Ingenieurbau SAAI an der Universität Karlsruhe. Der Einschätzung liegen zudem zahlreiche Veröffentlichungen, Forschungen und wissenschaftliche Initiativen der Unterzeichner zur Stuttgarter Schule, traditionalistischen Moderne und Nachkriegsmoderne sowie zur Reformarchitektur und Gartenstadtbewegung an unterschiedlichen Hochschulen und Institutionen der letzten Jahrzehnte zu Grunde.

PROF. HARTMUT FRANK, Lehrstuhl Analyse gebauter Umwelt, HafenCity Universität Hamburg

DIPL. ING. KATRIN PETER-BÖSENBERG, Wissenschaftliche Mitarbeiterin Lehrstuhl Analyse gebauter
Umwelt, HafenCity Universität Hamburg

DR. ING. HABIL. WOLFGANG VOIGT,
Stellvertretender Direktor des Deutschen Architekturmuseums Frankfurt a. M.

DR. ING. ELKE SOHN, Architekturhistorikerin Saarbrücken/ Techn. Universität Kaiserslautern

PROF. DR. ADRIAN V. BUTTLAR,
Institut für Kunstwissenschaft und Historische Urbanistik, Technische Universität Berlin

DIPL. ING. ANDREAS SCHWARTING, Institut für Baugeschichte, Architekturtheorie und Denkmalpflege,
Technische Universität Dresden

DR. KAI KRAUSKOPF, Institut für Baugeschichte, Architekturtheorie und Denkmalpflege, Technische
Universität Dresden

DR. DAVID HANEY, Architekturhistoriker, University of Kent

DR. RAINER KORSEN, Dozent und künstlerischer Werkstattleiter,
Hochschule für bildende Künste Hamburg

DR. DIETER SCHÄDEL, Geschäftsführer Fritz-Schumacher-Institut an der Hochschule für bildende
Künste Hamburg

Quelle:Reutlinger Nachrichten

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